Zehn Dinge, die wir aus dem Virtuellen semester für die Digitalisierung der Juristenausbildung lernen können

Was haben Verfechter von digitaler Lehre, Legal Tech und IT-Grundlagen in der Juristenausbildung in der Vergangenheit bereits veröffentlicht, diskutiert und argumentiert, um ihren Positionen Gehör zu verschaffen. Nun ist seit der Covid19-Pandemie an den allermeisten Universitäten das eingetreten, was viele Personen schon Jahrzehnte fordern – erste Schritte hin zur Digitalisierung des Jurastudiums. Welche langfristigen Konsequenzen dieser krisenbedingte Umschwung haben wird, steht allerdings noch in den Sternen. Es gibt jedoch schon jetzt zehn Lehren, die wir aus diesem Digitalsemester für die Gestaltung der Juristenausbildung der Zukunft ziehen können.

Ein Meinungsbeitrag in 10 Thesen von Jolanda Rose

#1 Wo ein Wille, da ein Weg

Über Jahrzehnte hörte man von Universitätsseite wenig zur digitalen Lehre außer etlicher Gegenargumente – von mangelnder Möglichkeit der Kommunikation zwischen Studierenden und Dozenten bis hin zu Datenschutzproblemen. In der Krise ging die Umstellung auf digitale Lehrkonzepte dann erstaunlich schnell. Die Universitäten haben ihre Hemmungen überwunden und selbst an den hochgradig traditionellen juristischen Fakultäten aus der Not eine Tugend gemacht. So wurde ein Semester lang mit Videokonferenzen, Lehrvideos und digitalen Skripten gelehrt, sowie per Videocam-Klausur oder 24-Stunden-Hausarbeit geprüft. Das ermöglichte vielen Studierenden einen flexiblen Lern-Alltag zwischen Arbeit, Ehrenamt und Freizeit. Dozenten konnten auf der anderen Seite ihre Inhalte relativ frei aufbereiten und (zumindest wenn sie viel auf digitale Lernvideos gesetzt haben) ihre Zeit freier einteilen.

#2 Recht(sausbildung) geht auch digital

Obwohl die Digitalisierung in der juristischen Praxis – wenn auch langsamer als in anderen Branchen – stetig voranschreitet, ist von der Entwicklung bisher wenig in der Ausbildung angekommen. Als Fakultäten und Dozenten im zurückliegenden “Sondersemester” gezwungenermaßen auf digitale Lehre umgestellt hatten, vernahm man zu Beginn viel Skepsis über den Erfolg des kommenden Semesters. Sicher, man nicht generell von der besten Lehr- und Lernmethode für alle Studierenden gleichermaßen sprechen, egal ob bei Videos oder Vor-Ort-Vorlesungen. Aber der von Professoren viel zitierte Austausch findet in der Lehrveranstaltung mit oft 400 Teilnehmern nur selten statt und bis auf wenige Ausnahmen sind die Vorlesungen selten gewinnbringend. Am Ende des Digitalsemesters waren viele Professoren erstaunt über das gute Feedback zu den Veranstaltungen, auch wenn viele beteuerten ihnen habe der persönliche Austausch gefehlt.

#3 Digitalisierung fängt bei Digitalkompetenz an

Das Spektrum der Digitalkompetenz war sehr weit gefächert – von Video-Profis bis zu Dozenten, die Probleme mit dem Hochladen eines PDFs hatten, war alles dabei. Das zeigt jedoch, wie viel in den letzten Jahrzehnten an Entwicklung verpasst wurde. Es gab bisher keine einheitliche Bildung in Richtung Digitalkompetenz – weder auf Dozenten- noch auf Studierendenseite. Denn man darf auch von Studierenden keine außergewöhnliche Digitalkompetenz erwarten, nur weil sie technische Geräte intuitiv bedienen können. Für die Anforderungen an die Juristen der Zukunft wird das rudimentäre Bedienen von Office-Anwendungen und Apps nicht mehr ausreichen.

#4 Digitalisierung erfordert ein Hinterfragen der juristischen Didaktik

Welche bestehenden Inhalte sollen in Zeiten technologischer Transformation beibehalten und digitalisiert werden? Welche zusätzlichen Kompetenzen sollen aufgebaut und was zu diesem Zweck vermittelt werden? Müssen andere, fachfremde Dozenten an juristischen Fakultäten lehren oder brauchen wir insgesamt didaktisch besser ausgebildete Professoren? Bei der Beantwortung dieser Fragen sollte man aus den Digitalisierungsvorhaben in der Praxis lernen. Ausschließlich bisher gelehrte Inhalte zu digitalisieren, ohne die Aktualität und Notwendigkeit von Inhalt und Methode zu hinterfragen, hat sich bisher selten als echter Fortschritt erwiesen.

#5 Digitale Prüfungsformate eröffnen einen neuen Horizont

Die handschriftlichen Richterklausuren, die während des kompletten Jurastudiums bis hin zum Staatsexamen in wenigen Stunden verfasst werden müssen, stehen schon lange in der Kritik. Neben der subjektiven Notenvergabe sind der wirkliche Praxisbezug solcher Klausuren und das fehlende Abbilden von später entscheidenden Kompetenzen häufige Kritikpunkte. Kein Rechtsanwalt, Richter oder Legal Counsel wird jemals ohne Recherche komplexe Rechtsprobleme lösen müssen. Mit Open-Book-Klausuren kann z.B. der in der Praxis nötige Sachverstand in größerer Tiefe abgebildet werden. Ansonsten sind digital oder digital unterstützt auch eine Vielzahl neuer Prüfungsformen denkbar. Der in der Juristenausbildung bisher völlig fehlende Aspekt der Teamarbeit könnte durch Legal-Tech- und Projekt-Management-Software unterstützte Anwendungsprojekte geschult werden und die reinen Wissens- und Erörterungsklausuren ergänzen. Damit könnten auch Inhalte geprüft werden, die interdisziplinär gelehrt würden – z.B. mit Fakultäten der Wirtschaftswissenschaften oder Informatik gemeinsam.

#6 Es ist kein entweder-oder

Zuletzt hat eine deutschlandweite Initiative von Hochschullehrern für Aufsehen gesorgt, die in einem offenen Brief (https://www.praesenzlehre.com/) die Rückkehr zu Lehre vor Ort forderte. Die Kritikpunkte an der digitalen Lehre waren nicht neu. Der fehlende Austausch mit Studierenden wurde bemängelt. Außerdem sei die Universität ein Ort der Wissenschaft und nicht nur der banalen Wissensvermittlung. Diese Argumente sind einleuchtend. Dennoch ist die Forderung und Schlussfolgerung daraus, die digitale Lehre sofort zu beenden, der falsche Weg. Zu viel wird über ein entweder oder diskutiert – dabei ist wahrscheinlich der Mittelweg für alle Parteien die beste Lösung. Wenn in Zukunft digitale Inhalte, wie Lernvideos, Online-Skripte, Selbst-Test und eine kursinterne Community für Nachfragen zur Vorlesung mit Veranstaltungen vor Ort kombiniert werden, würde man alle Vorteile miteinander vereinen. So hätte man in den Veranstaltungen in persona auch wirklich die Zeit zu diskutieren und müsste nicht „durch den Stoff rennen“. Außerdem könnten die Studierenden in kleineren Gruppen unterrichtet werden, wodurch ein engerer Austausch mit den Dozenten entstünde. Wenn das Grundlagenwissen jederzeit in Lernvideos zur Verfügung steht, würde das außerdem zu mehr Chancengleicheit für Eltern sowie arbeitende Studierenden beitragen. Durch eine Konzentration auf wenige, dafür aber intensive Veranstaltungen, könnte man allen Studierenden ein flexibleres, fruchtbares Studium ermöglichen. Nicht zuletzt könnte die Universität so zu einem wichtigen Ort der Vordenker und Gestalter werden – gerade in den Rechtswissenschaften. Es wäre wieder Zeit für das, was das Jurastudium eigentlich ausmachen sollte: Hinterfragen von Recht und Gesellschaft, Weiterentwicklung wissenschaftlicher Hypothesen und Praxisprojekte zur Umsetzung neuer juristischer Ansätze.

#7 (Interdisziplinäre) Kollaboration ist der Grundstein der Digitalisierung

Interdisziplinäre Kompetenzen sind in aller Munde, aber deren Schulung in der Juristenausbildung noch lange nicht Realität. Außer in wenigen Vorzeige-Universitäten (https://digital-study.de/wp-content/uploads/2020/05/Digital-Study-eMagazin-2020-03.pdf, S. 35 ff.) und Projekten studentischer Initiativen (https://mkg-jura-studis.de/studentische-legal-tech-initiativen/) spielt die praktische, sowie theoretische, interdisziplinäre Zusammenarbeit bisher kaum eine Rolle. Die Kommunikation innerhalb solcher Teams und die Kreativität bei der Entwicklung juristischer Produkte – egal ob in einer Kanzlei oder Behörde – wird in Zukunft über den Erfolg von angehenden Juristen entscheiden. Solche Kompetenzen schon an der Universität zu lehren, sollte deshalb oberste Priorität neben der Wissensvermittlung und dem wissenschaftlichen Aufarbeiten juristischer Probleme haben. Letztlich brauchen wir kollaborativ arbeitende und interdisziplinär geschulte Juristen, die in einer vernetzten Welt zurecht kommen. Die Universität sollte dafür den Grundstein legen.

#8 Legal Tech ist mehr als ein Buzzword

Genauso wie bei der digitalen Transformation in allen anderen Branchen, bedarf es auch in der juristischen komplexer Prozesse, um die effektive Rechtsdurchsetzung in einer digitalisierten Gesellschaft zu gewährleisten. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema und den Herausforderungen von Digitalisierung, Recht und Gesellschaft an der Universität ist somit zwingend erforderlich. Dabei sollte der Fokus zum einen in der Kompetenzschulung durch Praxisprojekte und zum anderen auf dem rechtlichen und ethischen Hinterfragen von Software-Einsatz in verschiedenen Bereichen liegen.

#9 Mehr Freiheit in der Ausbildung schafft bessere Juristen

Es gibt wenig andere Studiengänge, in denen so wenig frei wählbar ist, wie in den Rechtswissenschaften. Sicherlich ist das zum Teil dem System Staatsexamen geschuldet. Solange man an diesem jedoch festhalten möchte, sollte man Studierenden ermöglichen, Kurse an anderen Fakultäten zu besuchen und diese anzuerkennen. Auf dem Arbeitsmarkt und in unserer Gesellschaft werden Juristen benötigt, die die Lebenswirklichkeit ihres Gegenübers verstehen und kreative, dem Menschen dienende Lösungen entwickeln und durchsetzen. Dafür ist es unerlässlich, dass sich schon Studierende mit vielen anderen Disziplinen auseinandersetzen. Diese Freiheit zu ermöglichen und interdisziplinären Austausch bestmöglich zu fördern, sollte Anliegen jeder juristischen Ausbildungsstätte sein.

#10 Digitalisieren heißt Juristen angemessen auf die Zukunft vorzubereiten

Für Mensch und Gesellschaft das Recht gestalten, statt Missstände im Nachhinein regulieren – darauf sollten angehende Juristen für ihre berufliche Zukunft vorbereitet werden. Digitalisierung macht nur einen kleinen Teil dessen aus, was auf diese Berufsgruppe zukommt. In einer Welt, die mit wachsender Geschwindigkeit Veränderung und komplexen Problemen unterworfen ist, braucht es Menschen, die sich der Werte und Rechte unserer Gesellschaft bewusst sind und diese in allen möglichen Szenarien anwenden können. Die Digitalisierung der Juristenausbildung ist nur ein kleiner Schritt hin zu einer anderen Form von Lehren und Lernen. Jungen Menschen in dieser Zeit neben juristischer Kernkompetenz interdisziplinäre, kreative und kollaborative Fähigkeiten mit Hilfe neuer Methoden an die Hand zu geben, wird die Universität als Ort der Ausbildung und Begegnung grundlegend verändern.

Published under licence CC BY-NC-ND.

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  • Jolanda Rose

    Jolanda Rose ist Gründerin der Online-Magazine LAWTECHROSE und Digital Humanists. Dort schreibt sie neben ihrem Jurastudium über Digitalisierung, Recht, Ethik und Innovation. Zudem leitet sie als CCO die Kommunikation der NGO "Institute for Internet & the Just Society". Als Werkstudentin unterstützt sie KPMG Law bei Legal Process & Technology und Projekte zur globalen Technologiestrategie von KPMG.

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Jolanda Rose ist Gründerin der Online-Magazine LAWTECHROSE und Digital Humanists. Dort schreibt sie neben ihrem Jurastudium über Digitalisierung, Recht, Ethik und Innovation. Zudem leitet sie als CCO die Kommunikation der NGO "Institute for Internet & the Just Society". Als Werkstudentin unterstützt sie KPMG Law bei Legal Process & Technology und Projekte zur globalen Technologiestrategie von KPMG.